Sein oder nicht Sein

Adolf Reinach1 spricht davon, in religiösen Erlebnissen „Seiendes zu erfassen“2. Das führt auf eine zukunftweisende Spur.

Religion und Vernunfterkenntnis schlössen einander aus, meinen heute viele Leute. Manche unter ihnen wenden sich von der Religion völlig ab. Andere beschränken ihre religiöse Betätigung auf Taufe, Hochzeit und Begräbnis. Wieder andere üben sich in kirchlicher Vereinstätigkeit. Die Verbindung von religiösem Erleben und Vernunfterkenntnis erweist sich gerade in einer Zeit als sehr wertvoll, in der die vernünftige Erkenntnis einen starken positiven Akzent, dh. eine auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis gerichtete Prägung aufweist3 und religiöse Erkenntnis als unwissenschaftlich und unvernünftig gilt.

Religion schließt natürlich Naturwissenschaft in keiner Weise aus, religiöse Erkenntnis hingegen aus naturwissenschaftlich erworbenem Wissen abzuleiten hat sich immer als eine Sackgasse erweisen und wird daher „großräumig“ gemieden. Was tun, um die wertvollen Erkenntnisse aus einer religiösen Haltung nicht entbehren zu müssen, und dennoch nicht gleich als naiv, unaufgeklärt und unwissenschaftlich gebrandmarkt zu werden? Da kann der Zugang über das religiöse Erlebnis, den Reinach eröffnet, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Im religiösen Erleben, das nur persönlich – als Einzelperson oder als Gemeinschaft – möglich ist, „Seiendes zu erfassen“ eröffnet einen neuen Horizont und hilft damit, die menschliche Erkenntnis, in die sich die positivistische Sicht der naturgesetzlichen Notwendigkeit flächendeckend aber doch oberflächlich ausgebreitet hat, zu weiten und im Bereich der Freiheit des Geistes und wahrer Erkenntnis im Geiste neu zu verwurzeln.

Eine religiöse Haltung fördert aber nicht nur wahre Erkenntnis, die auch als wissenschaftlich (methodisch, nachvollziehbar, allgemeingültig) betrieben wird. In der Geisteshaltung des Opus Dei – Heiligkeit im gewöhnlichen Leben und Wiederentdeckung der göttlichen Dimension der menschlichen Arbeit – wird der Zusammenhang zwischen Religion und vernünftiger Erkenntnis zur neuen Brücke vom einzelnen Seienden zum Sein selbst. Mit Descartes und Kant wurden solche Brücken im abendländischen Denken wiederholt gesprengt, weil ihnen misstraut wurde und das Misstrauen – der Zweifel als solcher – als letzte Erkenntnis und damit als die eine Wahrheit eingesetzt wurde. Der Zweifel kann aber höchstens einen starken Brückenkopf bilden. Er kann eventuell bis zur Mitte der Brücke Erkenntnis bauen. Von dort in die Tiefe blicken macht schwindlig, ruft Angst hervor. In einem nur horizontalen Rundumblick auf die Seienden fehlt die Dimension der Orientierung in eine zukunftweisende Richtung. Es stellt sich Unsicherheit ein, in die richtige Richtung zu kommen, wo es wirklich weitergeht und sich nicht eine unüberwindbare Schlucht auftut, ein Abgrund oder nur der Weg zurück in eine immanentistische Ausweglosigkeit bleibt.

Die einmal und immer wieder eingeübte Haltung des Zweifelns führt in einer solchen Art eines horizontalen Immanentismus dann auch zu Radikalisierungen im Denken, die in der Angst im Pessimismus oder der Orientierungslosigkeit im Relativismus münden und zum Stillstand in der Ausweglosigkeit führen.

Die religiöse Haltung in wahrer Beziehung zur Transzendenz der Welt fördert das Erkennen der Wahrheit als solcher und bringt neue Dynamik und Kreativität des Denkens. Sie führt immer dazu, nicht nur einzelne Seiende oder Aspekte Seiender zu erfassen und Erkennen nur quantitativ zu erweitern, sondern das Erfassen Seiender in einer religiösen Haltung gibt dem vernünftigen Erkennen jene Wahrheit zurück, die durch die Seienden hindurch erfasst wird. Für die menschliche Erkenntnis leuchtet die Wahrheit nur durch diese Seienden auf. In einer authentisch religiösen Haltung kommt es immer zum Erkennen des Seins selbst. Das Sein hat viele Aspekte. Insofern diese Erkenntnisse aus sich auf die absolute Wahrheit der Welt gerichtet sind, wird erfasst, dass die Wahrheit nur eine sein kann.

Täuschungsmöglichkeiten, Unvollständigkeit, Vergessen im Erkenntnisvorgang sowie aber auch der kontinuierliche Fortschritt der Erkenntnis der einen Wahrheit werden nicht ausgeschlossen. Der Gegenstand des Erkennens gibt dem Erkennenden mit der Wirklichkeit verbundene Wahrheiten, die, insofern sie wahr sind, mit der einen Wahrheit kongruieren und darin verlässlich, richtungweisend werden, wie die eine Wahrheit allgemein gültig und auch in Freiheit normativ ist.

„Jede noch so alltägliche Situation birgt etwas Heiliges, etwas Göttliches in sich, und euch ist aufgegeben, das zu entdecken“4 – können wir die Überlegungen mit einer Aussage des Gründers des Opus Dei abschließen, die für unsere Zeit höchste, erkenntnistheoretische Bedeutung gewinnt, die eine neue Freiheit des Denkens in phänomenologischer Methode fördert.

Dr. Bernhard Augustin, Salzburg am 18.März 2014



  • 1 * 23. Dezember 1883 in Mainz; † 16. November 1917 bei Diksmuide, Belgien) war ein deutscher Philosoph, Phänomenologe, Sprachphilosoph sowie Rechtstheoretiker.
  • 2 Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden. Hg. v. Karl Schuhmann und Barry Smith, München 1989, S. 604.
  • 3 Ratzinger, Kardinal Joseph, Zur Gemeinschaft gerufen. Kirche heute verstehen: Das moderne wissenschaftliche Denken hat uns immer mehr inden Kerker des Positivismus eingeschlossen“, in: Buchauszug, Verlag KULTUR IN DIE FAMILIE, Linz 21992, S. 15.
  • 4 Gespräche mit Msgr. Josémaria Escrivá de Balaguer, Adamas Verlag, Köln 41992, Nr. 114.

 

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