Vortrag von Prof. Hanna Barbara Gerl-Falkovitz,
gehalten am 19. November 2011 im Palais Niederösterreich, Wien

zum Edith-Stein-Gedenkjahr 2011/2012

Überarbeitung aus einer wortwörtlichen Niederschrift –

Begrüßung, Hinführung zum Thema
Das Thema wurde mir vorgegeben und ich möchte mich auch gerne daran halten; es gäbe andere Themen, die Edith Stein auch füllt, aber ich glaube, es ist sehr angebracht.  (…)
Ich zeige hier ein Photo, das allerschönste von ihr, dieses wunderbare Portraitphoto ist in einem Atelier in Wien gemacht worden. Wir haben sogar den Namen, es gehört noch eigentlich in diese Wiener Position. Sie hat es eigens aufnehmen lassen, weil eine Schulfreundin von ihr sie darum gebeten hatte.

Stein als Heilige und Stein als Wissenschafterin
Ich möchte ein vielfältig-verwobenes Muster an Edith Stein aufrufen. (…) In ihrem Leben spiegelt sich das 20. Jahrhundert. Zu der außerordentlichen Aufmerksamkeit, die Edith Stein  nun auch als Patronin Europas erregt, tragen zwei Momente bei:
Das Erste war lange Zeit bestimmend, nämlich ihre außergewöhnliche Vita und ihre Heiligkeit, die offensichtlich also bei denen, die sie kannten, eine unglaubliche Bewegtheit auch ausgelöst hat; auch agnostische Freunde waren von Edith Stein offensichtlich tief beeindruckt. Das hat aber die Rezeption ihres Lebens in gewissem Sinne – ich möchte sagen – verschoben.
Und das zweite Moment, an dem wir arbeiten oder an dem die Wissenschaft arbeitet, ist eigentlich hinter dem Portrait der Heiligen auch die Philosophin herauszuholen. Das ist eigentlich ein Vorgang, der etwas ungewöhnlich ist. (…) Also Edith Stein an den Universitäten zu platzieren – was wichtig ist – leidet ein wenig sozusagen unter ihrer Heiligkeit. Also, wenn man sich mit ihrer Philosophie beschäftigt, muss man immer eine gewisse Reflexion erst mal vorausschicken, dass man das überhaupt darf. Gut.
Aber eben das Zweite, stellt eine weitausgreifende, gedankenreiche und hochrangige Arbeit dar. Ich versuche, sie auch gleich noch ein wenig zu platzieren. Zunächst begegnet uns einmal die tiefe Berührung durch die Lebenswende – von der Philosophin und Agnostikerin. Sie hat sich zwar nie als Atheistin bezeichnet, aber sie spricht in einem späten Text, den wir jetzt erst gefunden und bereits veröffentlicht haben, vom „radikalen Unglauben ihrer Jugend“. Ein radikaler Unglaube, also auch eine Entscheidung zum Unglauben, dezidiert. Die Lebenswende dann, 1921, in jener einen Nacht, die aber viel länger ist, die eine Nacht hat nur eine von drei [zusammengehörenden] Entscheidungen gebracht, die sie durchhält:

  • Christin zu werden;
  • Katholikin zu werden – denn bis dahin war das überhaupt nicht klar; von Max Scheler hat sie einmal gesagt – einem ihrer großen Lehrer – katholisch und intelligent zu sein hätte sie nie zusammengebracht;
  • Karmelitin zu werden – das musste sie hinausschieben bis 1933, im Jahre, das ja eigentlich schon der Auftakt für ihr Ende war. 1933 geht sie ja von Münster weg, verlässt ihre damals einzig angemessene Stellung als Hochschuldozentin, und wird Karmelitin in Köln.

Mit 51 Jahren wird sie ermordet. Wir kennen dazu keine Umstände, der Name Auschwitz wird heute noch einmal kommen, ein Opfer unter vielen, und ich möchte auch gerne in der Zielgeraden die Frage tangieren: „Ist Edith Stein als Jüdin oder als Christin umgebracht worden?“

Diese ergreifende Frau hat (…) ein vielfältig verwobenes Muster, sie ist eigentlich in dem Sinne auch ein Mensch des 20. Jahrhunderts, keineswegs – auch gar nicht mal an der Oberfläche - einfach. Vieles, was anderswo auseinander fällt, ist in ihrem Leben erst mühsam auch zusammengehalten worden, und ihr [geistiges Training], das sie an sich auch vollzogen hat, muss diese auseinanderstrebenden Kräfte bündeln.
Ich nenne einige Punkte, die keineswegs zusammenstimmen: Wissenschaft und Religiosität; Intellekt und Hingabe; anspruchsvolles Denken und Demut.
Wir haben zwei Photos von ihr, die völlig auseinanderklaffen, nämlich jene junge Frau, wahrscheinlich in Göttingen aufgenommen, völlig selbstbewusst, die junge Doktorin oder strebend jedenfalls zum Doktorat, das sie ja mit „summa cum laude“ dann macht. Hier dieser selbstbewusste, kritische, sehr distanzierte Blick, und auf der anderen Seite die Braut des Lammes, 1934 bei der Einkleidung, mit einem rätselhaft schmerzlichen Gesichtsausdruck, nicht freudig, tief verinnerlicht. Wenn man die zwei Gesichter nebeneinander hält, liegt dazwischen ein Abgrund. (…) Das ungewöhnliche Leben strebt in der ersten Hälfte steil und selbstsicher nach oben. Man darf Edith Stein nicht nur von Auschwitz her lesen, das ist eigentlich nicht richtig. Also zu dieser Patronin Europas gehört auch ein Philosophiestudium, eine Karriere – das sollten wir nicht unterschätzen. (…)

Stein, die Österreicherin und Wissenschaftlerin
Edith Stein weiß wohl von ihrer österreichischen Grundlage; sie ist sich bewusst, dass sie in Breslau auf österreichischem Boden steht, altösterreichischem. Auch ihr Lehrer Husserl, geboren in Mähren, der weltberühmte Begründer der Phänomenologie, ist Österreicher. Er hat diese Meisterschülerin nicht nur „summa cum laude“ promoviert, sondern sie auch als erste deutsche Assistentin in Philosophie eingestellt. (…) Zwei Jahre arbeitet sie bei Husserl, und wir haben drei Bände von Husserl, die uns nur durch die Feder von Edith Stein erhalten sind.
Lange Zeit war nicht bewusst reflektiert, dass Stein in ihrem Leben zwei große Lieben hatte, die beide negativ ausgingen – eine zu einem polnischen Kommilitonen, Roman Ingarden, und die zweite zu Hans Lipps. Beide haben sie als Kameradin angenommen, auch als Zuarbeiterin, aber nicht im Sinne dessen, was Edith Stein ihnen entgegenbrachte: Liebe. Also, der Weg dieser Frau durch ihr kurzes Leben, ihr fünfzigjähriges Leben, hat sehr verschiedene Biegungen. Selbstbewusst, intellektuell, eine Akademikerin. (…) Die deutschen Universitäten tun sich für sie auf, es beginnt eben genau ein Leben, ein Weg, den Edith Stein zunächst einmal in der Tat intellektuell und rasch und mit Glanz und Feuer und mit Hingabe auch beschreitet.

[19]21 kommt die Wende, der verlorene Krieg, (…) Untergang einer europäischen Welt, für diese Generation. Der Erste Weltkrieg ist die Zerstörung eines Europas, das es dann nicht mehr gibt, und Edith Stein kommt in eine unerhörte Krise – zwei suizidale Anspielungen in ihrer Autobiographie zeigen ganz genau, wo sie steht; sie beginnt einen sehr langen Weg, einen sehr mühsamen Weg, entscheidet sich dann noch einmal, hübsch gesagt, dem Christentum anzugehören, was den Bruch mit ihrer Familie bedeutet. Das Wort „Bruch“ ist nicht übertrieben, absolut, es ist ein Bruch. (…) Man legt den Schritt als Flucht aus, auch später in den Karmel, als Flucht, und die Familie hat in gewissem Sinne mit dieser merkwürdigen jüngsten Tochter gebrochen gehabt.

Stein, die nach innen gewandte Ordensfrau
Das zweite Leben dann, nach diesem unerhörten Aufstieg eben, 1921, nach innen. Von meinem Thema her möchte ich jetzt – sowohl die erste als auch die zweite Edith Stein beleuchten, denn die Vorträge, auf die ich mich beziehe, werden ja 1928 bis 32 gehalten, das heißt also vor dem Eintritt in den Karmel; in dieser Phase fasst sie zunächst noch einmal zusammen, was sie in ihrer frauenkämpferischen Phase, nämlich bereits seit ihrem Abitur, wo sie dann einem, Verein für Frauenstimmrecht beitrat und ausgesprochen frauenkämpferisch agiert hat. Sie aktiviert ja dann auch das Evangelium für ihre Stellungnahme, sie schließt das dann in eine Art „Summa“. (…) Aber jetzt gilt es, die Vordenkerin der Frauenfrage kurz zu kennzeichnen. Hier treffen wir auf eine Edith Stein der 20er Jahre, also manches ist zeitgemäß gebunden, aber einiges scheint mir auch tragend zu bleiben.

Stein und die Frauenfrage: biographisch
„Vordenkerin der Frauenfrage“ – biographisch nochmal kurz: Ich habe gesagt, dass sie ein elementares Interesse für Emanzipation und Frauenrechte hat, sie hat sich auch aktiv übrigens in einer Partei beteiligt – die „Deutsche Demokratische Partei“ – DDP, eine Vorläuferpartei der heutigen FDP, also eine liberale Partei, sie war damals weltanschaulich völlig ungebunden, und hat dort auch Flugblätter verteilt, hat in Berlin mitgearbeitet und war dann sehr enttäuscht. Ich kann auch den Grund der Enttäuschung sagen, darüber hat sie reflektiert: dass in der Politik „gelogen“ werden müsse, das hat sie extrem abgestoßen, also Kompromisse schließen, und sie hat das fast schon unter dem Stichwort „Lüge“ dann auch gesehen, und das war ihr derart zuwider, dass sie weggegangen war.

Stein und die Frauenfrage: Theoretisch
„Bestimmungen des Frau-Seins“: (…) Edith Stein geht an die Frage mit einer phänomenologischen Überlegung heran. Phänomenologie – ein Phänomen – sich zeigen zu lassen als das, was es von sich selbst her sagt. Leuchtet zunächst sehr ein, ist aber sehr schwierig. Was heißt es, Frau-Sein zu betrachten und von sich selbst her sagen zu lassen, als was es sich zeigt? Sie benutzt dazu ein Wort, das heute verpönt ist – ich gehe aber genau auf diese Verpönung noch einmal ein: „Was ist das Wesen der Frau?“ Das ist die Frage der 20er Jahre. „Was ist das Wesen von Weiblichkeit“ (…) Edith Stein stellt also diese Frage auf einer anderen Ebene, und überhaupt ist ihr phänomenologisches Fragen von Wesensfragen durchzogen, und ihre eigentliche Zielgerade ist übrigens eine Analyse der Person, das steht heute also auch forschungsmäßig fest. Was ist das Wesen von Personalität? Also das Wesen der Frau.

Ausgangssituation zur Frage ‚Was ist die Frau‘ – Simone de Beauvoir:
Die Verpönung kann ich gleich nennen: Die Frage nach dem Wesen der Frau wurde spätestens seit Simone de Beauvoir tabuisiert. Da es die Frau naturwüchsig nicht gäbe, das ist also jetzt die Position nach dem Zweiten Weltkrieg, die berühmte Position von Beauvoir, wird die Frau wird zur Frau gemacht, das heißt also, dass sie bearbeitet wird im Sinne einer sozialen und natürlich auch soziologischen Position, das heißt, die Frau wird erst in einem bestimmten Sinne geformt, also gerade nicht von einer Naturhaftigkeit her, sondern von einer Art – bei Beauvoir natürlich –Dressur auf ganz bestimmte Positionen, die sie einzunehmen habe. Und damit scheint die Frage „Was ist eine Frau?“ Makulatur. Die Frage die heute – auch heute – so gestellt wird, lautet: „Wie wird man eine Frau?“ oder, nennen wir es gendertheoretisch: „Wie kann man sein Frau-Sein gewissermaßen sekundär nehmen?“, also wie kann das überhaupt sein, dass  gewissermaßen das Geschlecht nicht die vorrangige Rolle führt, und damit kommen wir weg von der Frage nach dieser Was-Bestimmung; das heißt, die Naturhaftigkeit des Frau-Seins fällt dann auch zunächst aus.

Überlegungen Steins zur Stellung der Frau
Die Überlegungen Edith Steins können heute auch eine Kritik von Gender leisten, denn Gender versagt an einer entscheidenden Stelle. Es ist etwas völlig Richtiges darin, aber sie versagt doch an einer bestimmten Stelle, und Edith Stein hat das gut im Blick.

  1. Die naturale Basis Leib

Edith Stein wird im Brennpunkt der Frage beginnen, nämlich mit genau dem Problem, das die Gender-Theorie nicht aufgreift: die naturale Basis. Allerdings tut sie das nicht im Sinne einer naiven Auffassung von Natur (naiv ist Edith Stein ohnehin nie), sondern sie beginnt mit der Leibhaftigkeit des Frau-Seins, das heißt nun Leibhaftigkeit genau im Sinne des Phänomens: Was ist der Leib der Frau als phänomenale Selbstaussage? Sie nimmt methodenleitend den alten Satz von der anima forma corporis – die Seele ist die Form des Leibes - auf. Sie nimmt ihn jetzt im Rückschluss: Leib ist Träger und Ausdruck eines „Innen“. Also: Was sagt der Leib von sich her selbst aus? Das ist übrigens eine Frage, von der ich glaube, dass sie bis heute nicht ausdiskutiert ist, und ich hoffe und wünsche, dass diese heute so genannte „Theologie des Leibes“, die eine Phänomenologie des Leibes einschließt, also wirklich auch intensiv weiter betrieben wird. Ich glaube, da kommen wir genau über diese ganz naive Naturhaftigkeit hinaus.

  1. Nachkommenschaft

Um den Unterschied zum Mann ansatzweise zu bestimmen – es wird gleichzeitig auf der Kehrseite natürlich auch eine Aussage über den Mann gemacht – geht Stein von der Beobachtung des Leibes zu Kriterien der Innendimension, also nennen wir es mit ihr auch „Seele“ – es ist übrigens ein Ausdruck, der häufigst kommt, es ist ein ganz schwieriger Ausdruck bei ihr: was ist Seele. Bitte ‚Seele‘ nicht gleich religiös hören, das ist damit noch gar nicht gemeint! Von der Seele geht sie dann zur Untersuchung des weiblichen Geistes weiter: Was ist der weibliche Geist, gibt es ihn überhaupt, und da kann ich Ihnen eine kleine Überraschung bereiten nachher.
Edith Stein hat an dieser Stelle der leibhaften Grundlegung bereits eine Überlegung, die sie aus dem biblischen Text mitzieht – das ist nicht exegetisch, dogmatisch gemeint, sondern sie greift jetzt hier in ganz bestimmte Theorien zurück, unter anderem mit Bezug auf Aussagen in der „Genesis“.
Die Grundausstattung, die sich zunächst einmal auch leibhaft ausprägt, besteht in der Gabe der Nachkommenschaft, die ja nach wie vor eine - zunächst mal auch eine – leibhafte, männliche wie weibliche Beteiligung hat.
Die Beherrschung der Erde – das ist ja ein Imperativ, der dem Menschen mitgegeben wird, übrigens in gleicher Grundausstattung für Mann wie Frau, das Stichwort Beherrschung muss hier nicht negativ gehört werden. Heidegger selber hat es dann später als Hirten, hirtliches Dasein gekennzeichnet. (…)

  1. Ebenbildlichkeit

Und der dritte Punkt, entscheidend: die Ebenbildlichkeit ist eine Mitgift auch im Leibe, also leibhaft, gibt es eine Ebenbildlichkeit, das ist also nicht eine rein – gewissermaßen nur – innerliche Komponente. sondern Stein nimmt alle drei als gewissermaßen leibhaft sichtbar mit an.

  1. Die Irritation der Geschlechter

Das Problem ist, dass das Phänomen Leib sich aber nicht einfach frei gibt, und das ist gerade das Problem – das Dasein als Mann oder Frau ist offensichtlich außerordentlich irritiert (…) und was eine beständige Nachdenklichkeit herausfordert: Warum das Dasein, weiblich oder männlich, so irritiert ist – sie [Stein] spricht nicht vom Geschlechterkampf, aber sie spricht von der Erfahrung, dass das Zueinander von Frau und Mann offensichtlich und empirisch nicht einfachhin gelingt, und das sieht sie, wenn sie das jetzt noch mal von der Genesis her nimmt, als von der Metapher dieses Fluches aus besetzt an. Also die Genesis illustriert sozusagen das, was wir auch psychologisch wissen, also dass es nicht eine einfache Harmonisierung der Geschlechter gibt, sondern eine sehr deutliche Irritation. Diese Form der Näherung – noch mal: von zwei Seiten, auf der einen Seite kulturell gestützt durch einen großen Text, aus dem solche Positionen schon deutlich werden, auf der anderen Seite aber wissenschaftlich abgegriffen in der Psychologie – versucht sie nun zu differenzieren und auch einer Lösung zuzuführen.

  1. Die Frau, „Flaschenhals der Evolution“ und Personalität mit Freiheit

Wir bleiben im Moment bei dem weiblichen Leib, und das ist nicht ganz unriskant, aber – glaube ich – doch, doch ausdenkenswert. Von der Leiblichkeit aus differenzieren sich Frau und Mann zunächst einmal am intensivsten. Bei der Frau ist es die Empfängnisbereitschaft und die Mütterlichkeit als leibbedingte Fähigkeiten einer Spezies „Frau“. Und Stein hat von dieser Leibhaftigkeit her nun versucht, eben ein „Innen“ zu öffnen. (…) der Einwand, das sei ein naturalistischer Fehlschluss? Er ist es wirklich nicht, dazu arbeitet Stein viel zu phänomenologisch.(…) Aber jedenfalls von der Leibhaftigkeit gibt es jetzt eine Form von der Frage, ob das Ganze nun in die Personalität der Frau mit eingeht:

  1. Der primäre Beruf der Frau ist Erzeugung und Erziehung der Nachkommenschaft.“ Und jetzt kommt die zweite Seite: „Der Mann ist ihr dafür als Beschützer gegeben. Bei der Frau treten hervor die Fähigkeiten, um Werdendes und Wachsendes zu bewahren, zu behüten, in der Entfaltung zu fördern. Darum die Gabe, körperlich eng gebunden zu leben, in Ruhe Kräfte zu sammeln, andererseits Schmerzen zu ertragen, zu entbehren, sich anzupassen; seelisch gesehen die Einstellung auf das Konkrete, Individuelle und Persönliche, die Fähigkeit, es in seiner Eigenart zu erfassen und sich ihr anzupassen“ – also Konkretion – „und das Verlangen, ihr zur Entfaltung zu verhelfen.

Sie hat in einer mündlichen Diskussionen – 31 war sie zwei Monate nach Wien in Bonn, da kam sie übrigens gar nicht gut an mit diesen Thesen – formuliert:

  1. „Als die weibliche Seelengestalt herausgestellt habe ich die Mütterlichkeit.“ Darauf gab es große Diskussionen, und sie hat jetzt aber noch betont: „Diese ist nicht an die leibliche Mutterschaft gebunden, aber wir dürfen nicht von dieser Mütterlichkeit loskommen; die Krankheit der Zeit ist darauf zurückzuführen, dass nicht mehr Mütterlichkeit da ist.

Also zunächst mal die leibhafte Qualität: die Frau, die dem Leben verbunden ist; die Frau, die dem Leben verbunden ist. Die Frau ist die einzige Stelle, an der Leben überhaupt weitergegeben werden kann. Also sie ist genau – jetzt ganz modern ausgedrückt – „der Flaschenhals der Evolution“. Stein hat dem eben zugeordnet – und dazu auch ein Erziehungskonzept, das ich dann kurz skizziere – nämlich die Frage, wie diese Empfänglichkeit, die Rezeptivität des Frau-Seins, auch in der Tat geschult werden muss.

  1. Gefahr der Bauchempfindung

Übrigens auch eine unerhörte Gefahr, die sie sieht, nämlich in dieser Empfänglichkeit auch zu „versacken“, das heißt, das Ganze über das Gemüt, dasjenige, genau das, was heute Bauchempfindung heißt, das fand sie überhaupt nicht akzeptabel; werde ich gleich einige Zitate lesen. Sie hat ja eine ganze Doktorarbeit zum Thema „Einfühlung“ geschrieben, zwar nicht auf „Frau-Sein“ hin, aber auf eine primäre Qualität des Daseins, auch für die Frau, die sich gerade nicht im Narzistischen, also nicht in einer Form von Autonomie – Selbsthabe, Selbstbeobachtung – realisiert, sondern genau in der Einfühlung in anderes – das ist die eigentliche Lebensqualität: eine Einfühlung in anderes. Und das ist bei ihr in einem spezifischen Sinne noch eine Qualität von Frau-Sein. Die Überraschung nun: Stein kann im Geistigen keine Differenz zwischen Mann und Frau aufmachen. Die leibhafte Basis ist sehr different, die Art der Wendung nach innen und außen, vor allem eben Relationsfähigkeit, Rezeptivität, als eine besondere, in ihren Augen weibliche Qualität; während hingegen im geistigen Bereich Stein die Differenzierung sehr schwer fällt. Das ist übrigens bis heute ebenso gesehen – also die Frage, ob es eine weibliche Mathematik gibt, kann man einfach mit „nein“ beantworten. Es gibt schon Theoretikerinnen, die eine solche Differenzierung wollen, aber das ist vielleicht doch nicht so, auch wenn es gegebenenfalls ganz schwierig ist, das persönlich anzunehmen.

  1. Frau: die Gefährtin

(…) In einem Satz aus den 20er Jahren hält sie fest: „Also die Frau ist geistig im selben Sinne wie der Mann“ – das ist wohl kaum zu differenzieren. Aber Stein, und das ist jetzt eine empirische Beobachtung, die wir – glaube ich – heute fast nicht mehr treffen können, hält dafür, dass gerade die Frau in ihren geistigen Fähigkeiten – wie sie es sagt dann – zu Gefährtenschaft befähigt ist. Sie selber ist Meisterschülerin von Husserl, sieht sich hier einfach als Gefährtin, also deutlicher in einem zugeordneten Moment, sie nennt es, dass sich hier die Grundkraft des Weiblichen ausdrückt, zu dienen, mitzudenken. (…) Übrigens ihre zwei großen Lieben Ingarden und Lipps haben sie genau an dieser Stelle genommen: also sie hat deren Arbeiten durchkorrigiert, wir hätten auch eine Arbeit von Ingarden nicht, und Lipps hat sich seine ganz Habilitation korrigieren lassen – also Gefährtenschaft, genau da wurde sie auch ausgenutzt.
Einen riskanten Satz zitiere ich noch, das ist wörtlich von 1932: „Wenn bahnbrechende Leistungen von Frauen verhältnismäßig selten sind“ – 1932 sicher auch vollständig nachvollziehbar – „und das in der weiblichen Natur begründet sein mag,“ – sicher ist sie nicht – „so kann doch die Einfühlungs- und Anpassungsgabe die Frau in hohem Maße befähigen, am Schaffen anderer verstehend und anregend als Interpretin Anteil zu haben.“ Also ich will Stein nicht schönfärben und sie entspricht damit auch sicher nicht heutigen Einschätzungen – also das sollte man auch so sehen, aber ich möchte auch sagen, dass sie im weiteren Sinne – ich komme noch zu anderen Sätzen – trotzdem aus dieser Position noch etwas versucht zu machen. Das sind ungesicherte Folgerungen, weil sie damals empirisch arbeitete, das heißt, also etwas versucht abzugreifen, was sich in den 20er Jahren genau so darstellt. Sie bildet übrigens Lehrerinnen aus und betont immer wieder, wie wichtig und intensiv dieses Zuarbeiten, das Mitarbeiten, das Einfühlen, das Annehmen der anderen Schwäche ist.
Ich zitiere noch einen Satz, um einmal „dieses ganze Klavier“ auch abzufassen: „Der Leib der Frau ist dazu gebildet, mit anderen ein Fleisch zu sein. Dem entspricht es, dass die Seele der Frau darauf angelegt ist, einem Haupt Untertan zu sein in dienstbereitem Gehorsam und zugleich seine feste Stütze zu sein – wie ein wohldisziplinierter Körper dem Geist, der ihn beseelt, gefügiges Werkzeug ist, aber auch eine Quelle der Kraft für ihn und ihm seine feste Stellung in der äußeren Welt gibt.“

  1. Die Frau in der modernen Phänomenologie

Wenn man das intensiv diskutiert, muss etwas herausgearbeitet werden, was auf den ersten Blick in diesem Satz überhaupt nicht sichtbar ist: dass die phänomenologische Qualität der Übersetzung von Welt in Sprache darauf besteht, nichts eigenes zu sagen, als was sich aus den Dingen selbst her zeigt. Stein hat selber den großen Vergleich der Fensterscheibe verwendet, die Licht durchlässt, aber selber nicht gesehen wird. Das ist ein Vergleich, der jetzt das, was grade zitiert worden ist von der Gefährtenschaft, von der Dienstbereitschaft, von der Werkzeuglichkeit, von einer ganz anderen Seite her unterstreicht. Es ist nämlich nicht einfach eine Form von Passivität – sich führen lassen –, sondern es ist eigentlich eine Haltung zur Welt, die heute phänomenologisch übrigens ganz anders noch mal betrachtet wird: nämlich gerade nicht als ein aktivisches Zugreifen, um zu verändern, sondern als eine Wahrnehmungsbereitschaft, die je tiefer wird, je weniger sie gewissermaßen aus einem aktivischen Zugreifen kommt. Wir haben heute bei Jean-Luc Marioneine moderne Phänomenologie, die etwas genau in dieser Art wiederholt. Das heißt, die Qualität des Philosophierens wird umso höher, je weniger an Eigenaktivität in der Auslegung der Phänomene da ist, und Stein hat das nun in einem wahrscheinlich ihr gar nicht genau bewussten Sinne – im Sinne einer Wesensqualität von Frau-Sein – genommen. Eine Unverstelltheit – also gerade kein Narzissmus, grade nicht eine solche egozentrische Handhabung, sondern eine Offenheit, die sie hier werkzeuglich ausdrückt.

  1. Zusammenfassung über das Wesen der Frau und eine Bildungstheorie

Ich möchte das zunächst mal zusammenfassen und dazu kurz eine Bildungstheorie noch geben, nämlich, dass Stein diesen Rahmen solcher Wesensaussagen immer dann verlässt, wenn sie in die lebendige Geschichte von Frauen eindringt. Wir haben eine kurze Skizze über die hl. Elisabeth gehört; (…) für Stein wird deutlich, dass diese Wesensbestimmung aber dann grade nicht mehr in diesen allgemeinen phänomenalen Kategorisierungen genommen werden kann, sondern dass sie da in eine Ebene hineingeht, die sie übrigens gleich auch vom Evangelium her stützt, das nämlich die Eigenart der Frau von ihrer jeweiligen und unverwechselbaren Personalität abhängt.

Was ich bisher gemacht habe, ist eine phänomenale Problematik. Also dasjenige Wir haben bis jetzt herausgearbeitet, was jede Frau gewissermaßen, zunächst mal leibhaft, dann über ihre verinnerlichte Form mit sich träg; geistig bleibt das offen, aber: Die Frau in ihrer Eigenart ist nun jemand, der genau als Person genommen werden muss, das heißt, dass sie Ausprägungen des Vorgegebenen so vollzieht - und das ist die Kunst, das drohende Misslingen eingeschlossen - eine solche Eigenart überhaupt zu entwickeln. Und hier hat Stein – jetzt geht sie völlig raus aus den damaligen Konzepten und geht in etwas hinein, was wir wahrscheinlich zeitgemäß finden, aber ich möchte mich eigentlich dieser Urteile enthalten. Stein findet nämlich die stärksten Sätze zur Eigenart von Frau, das heißt nicht mehr in dieser klassifikatorischen Ebene, wo sie das Frau-Sein dem Menschlichen oder dem Personalen nachordnet (und das Personale ist bei ihr das Freie, also der je eigene Entwurf).
Zum Beispiel sagt sie zu Ibsens „Nora“ (Ein Puppenheim wird das ja meistens genannt): „Nora weiß, dass sie erst ein Mensch werden muss, ehe sie es wieder versuchen könnte, Gattin und Mutter zu sein.“ Oder noch der schöne Satz dazu: „So wie sie die Puppe ihrer Eltern war und die Puppe ihres Mannes, so behandelt sie ihre Kinder auch als Puppen.“ Ja. Stein hat Ibsens Nora mit ihrer Klasse auch durchgenommen und da wird ganz deutlich, dass hier eine Puppenexistenz nicht reicht, um Eigenart zu entwickeln. Und der Satz, von dem wir heute sprechen: „Keine Frau ist ja nur Frau.“ ist ganz klar, hier ist diese phänomenale Problematik gewissermaßen basal; aber auf dieser leibhaften Vorgabe, die sich seelisch auswirkt, basiert eine Eigenart. In diesem Sinne sieht Stein nun eine Kultivierung des Frau-Seins, das heißt, dass die naturale Basis nun kultiviert wird, weil sie kultiviert werden möchte. Sie sieht das in Europa durch die Erziehung von Frauen durch Frauen wahrgenommen. Sie bedauert übrigens, dass in der Reformation genau das abgerissen ist. (…) Aber sie sieht es auch gedeckt durch die Anstrengungen der modernen liberalen Frauenbewegung seit dem 19. Jahrhundert, und in dem Sinne hat sie immer darauf plädiert, dass – übrigens keine Koedukation, das war damals auch nicht die Frage, - dass dieses Weitergeben einer weiblichen Kultur durch Frauen an andere, an die jüngeren Frauen, für sie eine ausgesprochene Vorgabe war. Das hat sie genau so gesehen, und in diesem Sinne einer Kultivierung hat sie einen Bildungsbegriff entwickelt, (…) in dem sie ganz ausdrücklich jede Führungsperson, jede Person, die unterrichtet, darauf hinweist, dass die einzelnen Wahrnehmungen – das heißt die Eigenart der einzelnen Schülerinnen in diesem Fall – dringlichst und an allererster Stelle zu behandeln seien.
Im Übrigen hat sie dort [in der Bildungskonzeption] das Eigen-Sein der Frau dieser naturalen Basis deutlich vorgezogen. (…) Edith Stein bezieht sich auf eine Rede von Oda Schneider in Graz, in der Oda Schneider sagte: „Die Frau liebt, und liebt, ohne dass sie eine Begründung hat dafür.“ – Das ist also auch eine Art Wesensaussage, und Edith Stein widerspricht dem ausdrücklich, und sagt, das wäre nicht so – die Liebe bedarf eines Zieles und einer Richtung. Die Gefährdung [einer nur] naturalen Rezeptivität, dieser naturalen Hingabebereitschaft, besteht genau darin, dass sie nicht nach Zielen fragt, worauf die Hingabe gerichtet sei. Edith Stein empfiehlt als Gegengewicht gegen dieses „Nur-Naturale“ und um die Stärkung dieser Eigenart auch im Sinne eines Frei-Werdens zu fördern, ausdrücklich Naturwissenschaften und mathematischen Unterricht. (…) Bei Stein heißt das dann auch „die Schulung des Gemütes“. Es muss dieser Stärke – wenn sie denn vorhanden ist – eine ausdrückliche Gegenposition nochmal entgegengesetzt werden, damit überhaupt so was wie eine personale Subjektivität entsteht. Also grade etwas, was die Frau sozusagen von ihrer reinen Mitgift – wenn sie denn so ist, wenn sie denn so phänomenal ist – tatsächlich zur Selbstfindung im Sinne einer Selbstherrschaft – also eines Selbst-Umgehen-Könnens – befähigt, und das bedeutet, dass es in dieser Personalität eine Form von Gegensteuerung braucht. Gerade weil die Frau in der Weise dieses – von Stein her gesehen – leibhaft-rezeptiven, hingebungsvollen Wesens zu fassen sei, aber eben grade dadurch in einer enormen Verführung steht, bedarf es eines sehr sachlichen und sehr nüchternen Unterrichts.
Ich darf hinzufügen, weil ich noch zwei Schülerinnen von ihr kannte: Das hat sie genau in der Schule praktiziert; (…) diese Schulung des Verstandes: klar, präzise, sie hat schlechte Noten gegeben, haben sie gesagt, also wirklich, sie war schon hart an der Stelle. Wenn man dann aber in Not war und sich bei ihr meldete: ihre Augen waren sehr warm – also der Augenblick, wenn man sie sozusagen wirklich brauchte, war sie auch sehr da, aber von der ganzen Art der Forderung, also dessen, was wirklich Schulung brauchte und wirklich Führung, da war sie sehr unnachgiebig.

  1. Von der Eigenart der Frau zur Freiheit

Ich möchte zu einer Schlussüberlegung kommen; ich nenne sie „die Anthropologie der Freiheit“. Dort sehe ich einen religiösen Akzent, der heute möglicherweise in der Frauendiskussion sehr deutlich nicht besetzt ist.
Stein sieht das Umgehen mit der eigenen Vorgabe – weiblich oder männlich, – aber auch den Umgang mit anderer Leiblichkeit, unter der Signatur von „Freiheit“. Die Mitgift muss gebildet werden, die Mitgift muss kultiviert werden, und sie braucht ein Gegengewicht; sie muss verstandesmäßig so eingefangen werden, dass sie dann in ihrer Fähigkeit tatsächlich auch operieren kann, aber sich nicht einfach verliert. Also: „Hingabe darf nicht Preisgabe werden“. Die Hingabe – selbstverständlich - aber nicht Preisgabe.

  • In diesem Sinne ist nun Freiheit eine Grundbefindlichkeit, die sie als Mitgift neben der naturalen Basis ansieht. Sie hat übrigens Kant gelesen und sehr geschätzt. Also grade der Freiheitsaspekt ist bei ihr sehr wichtig. Sie hat als erste Schrift nach ihrer Konversion – nach ihrer inneren Konversion 1921 – eine kleine Arbeit geschrieben (sie ist noch nicht kritisch erschienen, sie wird im nächsten Band dann kommen): „Natur – Freiheit – Gnade“, und dort arbeitet sie die kantische Position ein.
  • Zweite Position: Die kantische Position für Freiheit, nämlich Selbstbesitz, Autonomie. Also: Zu sich selbst ein Verhältnis haben und sich selbst auch in der Herrschaft haben.

„Anthropologie der Freiheit“ – aber das hat jetzt zwei Seiten. Auf der einen Seite ist bei Edith Stein „Freiheit“ dadurch definiert – sie gibt eine klassische Definition – nämlich durch Selbsthabe. Also im Sinne Kants: ich bin mir selbst verpflichtet, ich habe zu mir selbst eine Stellung, ich kann mir selbst im Imperativ begegnen – Selbsthabe und Selbstdistanz, das heißt auch die Fähigkeit der Selbstbeurteilung. Also nicht einfachhin sozusagen eine Form von dumpfer Autonomie – Autonomie ist ohnehin nicht dumpf. Aber gerade eine Fähigkeit – die übrigens auch objektiviert werden muss –, die eigenen Entscheidungen noch einmal objektiv auch zu überprüfen. Nicht einfachhin eine „gefühlte Ethik“, also: „ich fühle so, dass ich so tun muss“ – also das ist völlig sinnlos bei Stein. Sie tritt für eine Form von Selbstdistanz ein, das heißt, ich muss nun auch erprobte, durchdachte, auch reflektierte Positionen, zum Beispiel im Ethischen, einbeziehen: Gut und Böse wird nicht von mir erfunden, wird auch von mir nicht gefühlt, sondern hier habe ich ganz klare Objektivationen auch zur Kenntnis zu nehmen. Und in dieser Selbstbeurteilung – also Selbsthabe und Selbstdistanz – kommt genau dieses Zwiegespräch, die Auseinandersetzung mit diesen Objektivationen, die ich auf mich in meiner subjektiven Situation anwende.
Objektivation
Was sind diese Objektivationen? Bei Stein ist es eindeutig zunächst mal ganz klar auch die Philosophie – die philosophische Tradition hat solche Objektivationen. (…) Und in dem Sinne hat Stein in der Art und Weise ihrer gedanklichen Durchdringung – meine ich –heute auch eine Zukunft, weil sie in ihrer Philosophie eigentlich wirklich noch nicht ausgeschöpft ist.
Was nun hinzukommt zu dieser Objektivation – und jetzt kommt der Punkt, von dem ich glaube, dass Frauenbewegungen mehrerer Couleur es nicht wahrnehmen: Dass in der Weise dieser Selbstdistanz ausdrücklich auch so etwas liegt wie Transzendierung. Sie brauchen noch nicht religiös denken. „Transzendenz“ heißt hier: ein Überstieg über mich selbst.
Transzendenz
Ein Überstieg – wohin? Ich bin nicht nur mit mir identisch – das ist bei Stein völlig klar –, sondern ich habe auch eine Fähigkeit, grade noch mal über die Einfühlung, völlig andere wahrzunehmen,– nicht nur andere Standpunkte, sondern eben auch andere Vorgaben; dazu es gibt eine „Riesentradition“ – 3000 Jahre Philosophieliteratur. Aber zu dieser Objektivation gehören dann auch religiöse Aussagen, und zwar so, dass ich sie noch nicht einmal glauben muss, sondern nur in ihrer Rationalität einfach auch einmal höre. Das ist ein merkwürdiger Satz, aber ich werde ihn erläutern. Das heißt, für Stein ist lange Zeit – noch bevor sie überhaupt zum Glauben kommt – Texte aus der Religion maßgeblich! Husserl hat seine Schüler auch gezwungen, religiöses Fragen zu bearbeiten beziehungsweise es war für ihn völlig gleichgültig, ob es religiöse oder nicht-religiöse Text sind; Texte müssen zunächst einfach in ihrer Aussage rezipiert werden, und für Stein war es klar, dass in solchen Texten zunächst einmal Erfahrung gespeichert wird, dass dort auch eine Form von Reflexivität vorhanden ist. Glaube ist ja auch nicht ein Blindflug, auch später niemals für Stein, sondern Glaube ist eine Form von [Rationalität] – dort ist Nachdenken in einer Form gespeichert, das wieder entbunden werden muss. Stein hat übrigens ganz früh – leider haben wir den Aufsatz nicht mehr –, noch lange in der Zeit ihres „radikalen Unglaubens“, im Auftrag Husserls einen Aufsatz geschrieben– also eine Hausarbeit: „Vom Wesen Gottes“. Also so, wie sie über das Wesen der Frau schreibt, schreibt sie über das Wesen Gottes. Dazu muss ich nicht glauben, ja, das ist vielleicht jetzt verblüffend. (…) Genau in diesem Sinne ist Selbstdistanz und die Wahrnehmung nun bestimmter Außenpositionen der großen europäischen Tradition für sie selbstverständlich – das ist einzubauen, das ist welthaft, das ist eine welthafte Qualität, die mein Denken befruchtet. Und Stein hat nun dieses Transzendieren – also gerade nicht einfachhin nur auf sein Gefühl, auf „Gewissen“ würden manche heute sogar sagen – das Wort verwendet sie nicht –, auf die eigene Gemütslage, auf die eigene Subjektivität sich einzulassen; vielmehr: dieses Transzendieren in die großen Traditionen, die sie als objektiv sieht, und in dem Sinne ist das Transzendieren nun bei ihr eine Grundoption, und – das ist jetzt der Punkt, auf den ich hin will: (Stein hat in ihrer eigenen Konversion, die wurde hier nicht beleuchtet wurde), etwas, eine Erfahrung gehabt, die für sie umwerfend war, sie schreibt darüber nicht [explizit], sondern nur in einer völlig verschlüsselten Form: sie hat eine oder zwei berühmte Stellen

  • , aber die eine ist unerhört aussagekräftig – sie hat nämlich eine Stelle, an der sie von einem Versinken spricht, nämlich von einem rettungslosen Verlorensein, offensichtlich in einem Nicht-Mehr-Aus-Sich-Heraustreten-Können – im selben Umkreis stehen diese suizidalen Bemerkungen – und
  • sie hat dieses unglaublich schöne Bild von einem Ertrinkenden, der im allerletzten Augenblick aus diesem Wasser gezogen wird und dann in einem hellen und warmen Zimmer wieder aufwacht, von einem Arm geborgen, von dem man nicht weiß, woher er kommt. Man stimmt in der Forschung überein, dass es wirklich eine Selbstaussage ist, wo sie nicht „Ich“ sagt.

Und hier heißt nun Transzendieren – und das ist sicher einer der Anlässe ihres Weges –, dass es in diesem Greifen nach Objektivation, in diesem Greifen nach etwas besteht, was sich nicht aus der eigenen Innerlichkeit ergibt, sondern was sich von außen her meldet; das mag vielleicht überraschend wirken, vielleicht sogar so, dass es zunächst gar nicht verstanden wird –, aber in diesem Ergriffen-Werden sieht Stein nun eine Hand. „Hand“ heißt mehr. In vielen ihrer Briefen, die weit weniger komplex sind als ihre philosophischen Arbeiten kommt übrigens dieses unerhört schöne Bild; es ist vielleicht sogar ein Schlüssel ihres inneren Lebens und unerhört einfach, ganz einfach: an der Hand des Herrn gehen – das Bild kommt bis an den Schluss. Aber diese Hand nun – wenn wir sie noch deutlicher figurieren – ist nun etwas, von dem sie annimmt – und das ist das, was sie einbaut in ihre Theorie – das es die eigentliche Entfaltung meiner Personalität erst möglich macht, nämlich nicht nur aus diesem Eigenen heraus, also aus der eigenen Selbsthabe, sondern – ja, sie nennt es so – aus einem Ergriffen-Werden, aus einem von wo anders her Ergriffen-Werden.
Stein hat als Philosophin am Begreifen gearbeitet, am Freilegen der Phänomene, an einem Begreifen; andererseits – wir haben es schon angedeutet – an einem Sich-Auch-Ergreifen-Lassen von dem, was sich zeigt. Dass in dem, was sich zeigt, nun aber nicht nur etwas sich zeigt, sondern jemand sich zeigt – die Hand ist ja keine Sache –, dass jemand sich zeigt, war für sie in der Tat erstaunlich und verblüffend. Und nun beginnt jene Personalisierung, von der sie ja dann in den letzten Schriften intensiv bis in ihre mystischen Wiedergaben von Johannes vom Kreuz hinein arbeitet. Das heißt, dass der eigentliche Kern der Person bei ihr – in einem ganz eigenen Bild gefasst – eben darin besteht – das Wort Seele wechselt dann sehr deutlich auch in das Wort Personalität – nämlich etwas in einem eigenen Inneren ist, das immer tiefer wird, ohne dass es in die eigentliche Tiefe hinunter kommt. Wir könnten also nicht nur von Überstieg sprechen, wir müssten auch sagen: ein immer tieferes In-Sich-Hinein-Gehen – ohne, dass der Mensch seine eigene Tiefe erreicht. Aber aus dieser innersten Tiefe, die mir nicht zugänglich ist, die also wirklich gegenpolig in mir wartet, kommt ein Ruf.
Das Bild ist deswegen eigenartig, weil sie damit an Teresa – ihrer späteren Ordensmutter – etwas herausgearbeitet hat – Teresa hat ja in der innersten Burg, nach den sieben Räumen, die man betritt, im Innersten eine Horizontale angelegt, also ein horizontales Bild einer Burg; in der innersten Mitte, im letzten Raum, kommt bei Teresa ja dieses geheimnisvolle Pfeifen des Hirten. Stein legt keine Horizontale, sondern eine Vertikale an. Also eine Vertikale, die durch uns hindurchgeht. Und diese geheimnisvolle Stimme – oder die Hand oder eben dieses Angesprochen-Werden – ist bei Stein etwas – ich sag das jetzt mit ihren Worten –, „je offener das Annehmen des göttlichen Rufes, desto klarer die Entfaltung des Eigenen“. Also die eigene Selbsthabe, solange sie aus der eigenen Autonomie kommt oder aus der eigenen Selbstbeurteilung noch einmal, ist natürlich unerhört wichtig. Aber sie ist nicht eigentlich an der Stelle angelangt, an der die Entwicklung anlangen kann; sondern das Annehmen eines Rufes, der aus dem eigenen Inneren kommt, aber dem eigenen Inneren nicht zugehört – das wird sehr deutlich unterschieden, es ist nicht eine Selbsttäuschung, es ist auch keine halluzinative oder narzistische Bewegung, sondern es ist ein Ruf, der aus Fremdem kommt, aus Anderem kommt –, desto klarer die Entfaltung des Eigenen, also eine dialogische Situation.
In diesem Sinne hat Stein weibliches Dasein noch einmal in seiner Eigenart betrachtet – ich hab das bereits gesagt – von seiner leibhaften Grundausstattung, von der Bildung des Gemütes – das grade noch mal gegenläufig auf deutliche Verstandestätigkeit, auf Klärung, auf – in gewissem Sinne – Objektivation des eigenen Empfindens zielen muss, in eine geistige übergeschlechtliche Qualität, dann aber auch in eine Form von Selbständigkeit, eine Freiheit des Selbstseins die Eigenart der Frau, die ihre generische Qualität, ihre „genushafte“ Weiblichkeit dann auch übersteigt.
Es ist hier nicht ausführen, ich erwähne es nur: Stein gibt hier für Frauen mehr Berufe vor als nur die Lehrerin und Ärztin, die zu dieser Zeit auch schon denkbar sind, sondern jede Frau hat eine Fähigkeit, oder: die Frau, die dazu begabt ist, hat eine Fähigkeit, alle mögliche andere Berufe auszuüben; sie rät dazu, vor der Heirat auf jeden Fall eine Berufsausbildung [zu durchlaufen und abzuschließen].
Werde du selbst!
Aber nun in einem letzten Sinne – und das ist, glaube ich, so etwas wie eine Steilvorlage an heutige Frauendiskussionen –: Wir konstituieren uns nicht selbst – das ist genau auf den Punkt gebracht. Wir konstituieren uns nur teilweise. Das heißt, wir sind in der Lage, zu uns selbst in ein Verhältnis zu treten, aber das eigentliche Herauslocken, das eigentliche Konfrontieren (auch im Sinne eines Überschreitens der eigenen Grenze) wird nicht einfachhin durch Sachen, durch Beruf, durch Umgang mit anderen Menschen provoziert, sondern eben durch jenes tiefste, unerreichbar, uns selber nicht wirklich einsehbare Innerste, das als „Jemand“ wahrgenommen wird.

Gebetserfahrung am Weg zum freien Selbst
In ihrem Seligsprechungsprozess wurde bereits notiert – das ist nicht veröffentlicht, aber ich kann es hier sagen, weil es sehr interessant ist: Als sie in Freiburg, noch in der Phase ihrer Ungläubigkeit, ihrer eigenen Zimmerwirtin, einer Freiburgerin, Philomena Steiger, auffielt, weil sie immer so gehetzt und – ja – übermüdet und abgeschuftet aussah, hat diese Philomena Steiger sich „das Mädle“ mal geholt, so hat sie gesagt – das „Mädle“ war immer so … sie sah so blass aus und nervös und so – also hat sie das „Mädle“ geholt und sie gefragt, ob sie schon mal betet, und dann sagte Edith Stein [nein]– offensichtlich hatte sie also keine Ahnung und es interessiert sie auch gar nicht. Und Philomena Steiger hat dann zu Protokoll gegeben, sie hat sie ein Gebet gelehrt zum Heiligen Geist: „Komm, Heiliger Geist, bleib bei mir, und führe mich – ich folge dir.“ Und hat zu dem „Mädle“ gesagt, das soll sie doch einfach einmal beten und Stein hat gesagt: „Ich glaube nicht daran.“, und dann hat sie aber gesagt „Das macht nichts. Probieren Sie’s mal.“ Und wenn man Philomena Steiger glaubt, war da der Einsatz – also das war die Überzeugung der Zimmerwirtin – und sie hätte das also so gemacht. Gut.

Was hier kommt? Bei Stein war deutlich, dass der Anschub zum eigensten Entdecken – also zur innersten, eigensten Verankerung – einer ist, der nicht von unserer eigenen Autonomie herkommt, sondern von jenem Ruf „Ich folge dir.“ – also diese schöne Formulierung, und in diesem Sinne hat sie – glaube ich – für die Frauenbewegung etwas zu sagen, weil die Frauenbewegung sehr viele Positionen nachvollzieht – auf der einen Seite natürlich in vieler Hinsicht den Gedanken der Autonomie, auf der anderen Seite der Selbstverwirklichung, der Berufswahl – alle diese Dinge, die Rollenfunktionen von oben bis unten, aber in der Tat einen Punkt ausspart, den ich genau nennen will, nämlich: dass Frau-Sein sich transzendiert – und zwar nicht nur ins Mensch-Sein. Nicht nur ins Mensch-Sein – also als allgemeine generische Qualität, sondern in einem viel intensiveren Sinne, über alle Klassifikationen, „genushafte“ Klassifikationen hinaus, nämlich in ein Ich-Sein, und das Ich-Sein – ich möchte das mit Buber benennen – das Du braucht: „Am Du gewinnt sich das Ich.“ Es gibt ein Du, einen Überschritt in eine Du-Erfahrung, von der her erst das eigentliche Ich wirklich stabilisiert wird – und das erst erlaubt Hingabe.

Freiheit und Fruchtbarkeit, Zukunft Europas
Ich komme zu meinem letzten Satz: Für Stein entbindet die wirkliche Freiheit von der Sterilität der Selbstsicherung – das ist nämlich das Problem: Selbstsicherung in meinem weiblichen Dasein – entbindet von der Sterilität der Selbstsicherung zur Fruchtbarkeit des Sich-Verschwendens. Deswegen wird für die späte Edith Stein die Frauenfrage sogar uninteressant, das sagt sie ganz deutlich, das hat sie 1932 gesagt, es interessiert sie nicht mehr. Die Fruchtbarkeit des Sich-Verschwendens. Das eigentliche Gegenüber ist noch mal ein Anderes.
Wenn der Freie die Ursache seiner Selbst ist, wie ihr Lehrer Thomas von Aquin formuliert, dann wird er das bei Stein in der Zustimmung zur Selbstverschwendung seines Lebens. Dort liegt das Stichwort der Sühne, das ich nur andeute, mit dem sie in ihrem Testament fünf Weisen der Hingabe formuliert und die Wahrheit dieser Hingabe. Die Wahrheit einer fünffachen Sühne, für die sie 1939 ihr Leben anbietet, ohne zu wissen, wie es enden wird, macht sie frei – nicht nur zum Geben, sondern Sich-Nehmen-Lassen von anderer Lebendigkeit. Edith Stein hat ihr Leben gegeben für andere Lebendigkeit – übrigens für uns alle, denn in diesen fünf Punkten kommen wir vor, es kommt dezidiert auch Deutschland vor, dezidiert auch Europa in diesem Sinne; sie hat sich nehmen lassen von anderer Lebendigkeit, und es mag einer der Schlüssel sein, warum Europa seinen eigenen Untergang überlebt hat, spezifisch Mitteleuropa – es ist wirklich eine Frage, es hätte nicht notwendig sein müsse,: Weil wir auf den Schultern stehen von Menschen wie Edith Stein, die ihre eigene Lebendigkeit in etwas hineingeworfen haben, dessen Ausgang sie gar nicht kannten. Aber sie haben es hineingeworfen in ein Mosaik – so drückt sie das ja auch aus –, an dessen Grund sie das Antlitz des Lebendigen überhaupt ahnt. Also: Das Anbinden der eigenen Lebendigkeit an dieses andere, große Leben – das göttliche Leben.

Schluss
Edith Stein als Patronin Europas kann über manche zeitbedingte Aussagen zum Thema Frau unsere eigene Zeitbedingtheit an Aussagen zum Thema Frau – meine ich – positiv konfrontieren und an einer Stelle mit Sicherheit überholen, noch einmal: wo nämlich nicht die Selbstsicherung und die Selbstfindung, sondern die Fruchtbarkeit eines Sich-Anvertrauens steht.

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